Gerecht, digital, nachhaltig! Kultur der Digitalität? – zentrale Begrifflichkeiten (2/4) 

Gerecht, digital, nachhaltig! Kultur der Digitalität? – zentrale Begrifflichkeiten (2/4) 

Lesezeit (inkl. Mediennachweis): 5 Minuten

Kultur der Digitalität – was ist das überhaupt?

Wie ihr im ersten Teil unseres Berichts bereits lesen konntet, reflektierten wir aus drei Perspektiven die Tagung „Gerecht, digital, nachhaltig!“. Wir beschlossen daraufhin einen gemeinsamen Leistungsnachweis zum Thema „Kultur der Digitalität“ im Modul „Lern- und Bildungsprozesse“ zu verfassen, da wir in der Gruppendiskussion immer feststellten, dass das Thema und das Ziel der Tagung für uns weiterhin im Unbekannten blieben das Thema aber umso spannender. Wir entschieden uns also, uns der „Kultur der Digitalität“ in Lern- und Bildungsprozessen selbst wissenschaftlich zu nähern – und wir glauben, es ist uns vor allem im gemeinsamen Austausch der Gruppe gut gelungen! Aber überzeugt euch ruhig selbst – oder noch besser: beteiligt euch und teilt uns eure Gedanken als Kommentar mit! Im Folgenden stellen wir euch kurz die zentralen Begrifflichkeiten in einer Theorie zur Kultur der Digitalität vor:

Digitalität

Wir beginnen mit Felix Stalder – bildlich gesprochen praktisch DER Kulturreferent der Digitalität:  

Der Kultur- und Medienwissenschaftler beschäftigt sich ausführlich mit den wechselseitigen Beziehungen zwischen Gesellschaft, Kultur und Technologie. Er beleuchtet also soziale Konsequenzen der Entwicklungen und damit auch kulturelle Besonderheiten von Digitalität. Die Erstauflage seines Werkes „Kultur der Digitalität“ erschien im Jahr 2016. Aktuell ist das Buch bereits in der 5. Auflage (2021) erhältlich.   

Allgemein wird der Kulturbegriff oft schwammig definiert. Kultur, das ist irgendwie alles und nichts. Eine interessante Kulturdefinition liefert die Bundeszentrale für politische Bildung:  

„Im weitesten Sinne meint ‘Kultur’ daher die vom Menschen durch die Bearbeitung der Natur mithilfe von planmäßigen Techniken selbst geschaffene Welt der geistigen Güter, materiellen Kunstprodukte und sozialen Einrichtungen. Dieser weite Begriff der Kultur umfasst die Gesamtheit der vom Menschen selbst hervorgebrachten und im Zuge der Sozialisation erworbenen Voraussetzungen sozialen Handelns, d. h. die typischen Arbeits- und Lebensformen, Denk- und Handlungsweisen, Wertvorstellungen und geistigen Lebensäußerungen einer Gemeinschaft.“

Nünning, 2009

Kultur existiert sowohl analog als auch digital und wird laut Stalder zunehmend technologisiert. Kulturelle Veränderungen waren bereits vor der Digitalisierung existent, jedoch noch nicht derart technologisiert. Im Allgemeinen versteht Stalder unter Kultur der Digitalität, dass sich immer mehr Menschen an kulturellen Prozessen beteiligen, die vorher voneinander unabhängig agiert haben, da Digitalität die Möglichkeiten eröffnet, mit anderen Menschen zu kommunizieren und Netzwerke zu bilden, auch wenn diese sich an einem anderen physischen Raum befinden. Kulturelle Entwicklungen können sich dadurch verstärken, verändern oder neu entwickeln. Ein Ausdruck von Kultur der Digitalität wird als „enorme Vervielfältigung von kulturellen Möglichkeiten“ bezeichnet (vgl. Stalder 2021a, S. 10–11). 

Digitalität vs. Digitalisierung 

Grundlegend müssen die Begriffe Digitalität und Digitalisierung unterschieden werden. Digitalisierung ist vereinfacht ausgedrückt, die Überführung eines analogen Mediums in ein digitales, z. B. ein Buch, das eingescannt wird und anschließend digital verfügbar ist. Man kann jedoch auch Digitalisierung im erweiterten Sinn denken, nämlich insofern, als Digitalisierung zu veränderten Prozessen führt und dadurch ebenso Nutzungsverhalten verändert. Hierzu müssen die Nutzer*innen in die Lage versetzt werden, die prozessualen Veränderungen annehmen und mitgestalten zu können, um kulturelle Strukturen und Bedingungen zu verändern. Sobald dieser Prozess eine gewisse Intensität erreicht hat und neue digitale Möglichkeitsräume entstehen, kann man von Digitalität sprechen. Etwa seit der Jahrtausendwende ist die Digitalisierung derart fortgeschritten, dass der Begriff Digitalität passend erscheint. Seither sind Digitalisierungsprozesse so weiterentwickelt plus deren Nutzung in Alltagspraktiken gängig, dass sie einen dominanten kulturellen Raum bilden. Man kann also festhalten, dass Kultur der Digitalität aus einer zunehmenden und übergreifenden Digitalisierung, sowie deren Nutzung resultiert, die sich in unterschiedlichsten Lebensbereichen widerspiegelt (vgl. Stalder 2021b, S. 3–4).  

Im Folgenden werden die drei wesentlichen Formen von Kultur der Digitalität skizziert: Referentialität, Algorithmizität und Gemeinschaftlichkeit. 

Referentialität

Referentialität ermöglicht Bezüge herzustellen und Neues aus Bekanntem zu erschaffen. Man bezieht sich also immer auf vorher bereits vorhandene Versionen und entwickelt diese weiter. Referentielle Verfahren haben keinen definierten Anfang und ebenso kein Ende. Was heute als neu gilt, kann bereits morgen in einer weiterentwickelten Version veröffentlicht werden. Stalder benennt zwei Bedingungen für referenzielle Verfahren, nämlich die Erkennbarkeit der Quelle (1), durch die ein System von Verweisen bzw. Bezügen hergestellt werden kann und gleichzeitig ein freier Umgang mit ebendiesen Quellen (2), die dazu führen, dass Neues entsteht. Digitale Systeme erleichtern die Verarbeitung von Informationen enorm. Außerdem sind durch Digitalisierung, Informationen in hohem Umfang zugänglich gemacht worden. Dies lässt sich an digitalen Bibliotheken sowie Streaming-Diensten beobachten. Drei wesentliche Voraussetzungen für Referentialität sind eine ökonomisch-organisatorische Verfügbarkeit sowie kulturelle und materielle begünstigende Bedingungen. Als eine besondere Herausforderung werden in diesem Kontext Urheberrechte beschrieben, da diese oftmals Weiterentwicklung blockieren. Digitalität hat jedoch insgesamt dazu geführt, dass eine besondere Zunahme an referenzielle Verfahren wahrnehmbar ist. Es sind also immer mehr Informationen, Daten, Updates usw. vorhanden. Dies hat zeitgleich zu einer großen Unordnung geführt, die mittlerweile für Personen unüberschaubar ist. Hier spielen Algorithmen eine besondere Rolle (vgl. Stalder 2021a, S. 96–128). 

Algorithmizität

Wie erwähnt, machen es die riesigen Datenmengen für Menschen unmöglich, sich einen Überblick zu verschaffen. Hier kommt Algorithmizität ins Spiel. Diese verbessert unsere Fähigkeit, mit den Datenmengen umzugehen. Wichtigste Voraussetzung dafür ist Mathematik und ihre Implementierung in Computersystemen. Man kann sagen: Ein Algorithmus ist eine Handlungsanleitung, die aus einem bestimmten Input einen bestimmten Output generiert.  Algorithmen sind dabei hochgradig dynamisch und adaptiv. In iterativen Verfahren passen sie sich so lange an die Gegebenheiten an, bis sie in perfektionierter Weise funktionieren. Ein besonders prominentes Beispiel ist die Suchfunktion von Google. Der Google-Suchalgorithmus ist hochkomplex und sortiert die Ergebnisse bereits so vor, dass diese auf die Nutzer*innen persönlich zugeschnitten sind. Die speziellen durch Algorithmen generierten Ordnungen ist ein grundlegender Bestandteil der Kultur der Digitalität. Besonders Internetgiganten wie Google, Amazon oder Meta Platforms (z. B. Instagram, Facebook, WhatsApp) haben damit Verantwortung und Gestaltungsmacht, da sie Einfluss auf mediale Gebrauche und Realität nehmen (vgl. Stalder 2021a, S. 164–202).  

Gemeinschaftlichkeit

Gemeinschaft bindet unterschiedliche Menschen in komplexe soziale Beziehungen ein. Stalder definiert Gemeinschaft folgend:  

Gemeinschaften sind umfassende soziale Institutionen, die alle Bereiche des Lebens durchdringen, mit Bedeutung erfüllen und durch gegenseitige Abhängigkeit Stabilität und Sicherheit erzeugen, aber auch Veränderung und soziale Mobilität verhindern.

Stalder 2021a, S. 132


Durch digitale Möglichkeiten formieren sich neue Gemeinschaften, die sich durch persönliche soziale Netzwerke stabilisieren. Gemeinschaftlichkeit wird über persönliche Kommunikation kontinuierlich hergestellt und angepasst. Das führt zugleich zu einem sehr fragilen und stabilen Konstrukt der eigenen Identität. Außerdem werden Gemeinschaften als das eigentliche Subjekt der Kultur der Digitalität beschrieben, sodass Individuen in den Hintergrund rücken. In der Gemeinschaftlichkeit geht es laut Stalder nicht um enge Verbindungen zwischen mehreren Akteuren, sondern um sogenannte „schwache Verbindungen“, die ein Netzwerk bilden. 
Deshalb ist das eigentliche Subjekt […] unter den Bedingungen der Digitalität nicht der Einzelne, sondern die nächstgrößere Einheit.” (Stalder 2021a, S. 128) 
Solche gemeinschaftlichen Formationen definieren intern, was als relevant für die jeweilige Gruppe gilt, nämlich in Form von ungeschriebenen Standards, also „Was man gesehen, gelesen und besucht haben muss.“ Der Zugang kann hier besonders erschwert werden, wenn die Vorkenntnisse der Community nicht vorhanden sind. Insbesondere in einer Wissensgemeinschaft, in dem ein spezialisierter Diskurs stattfindet, der durch Beiträge einzelner Forscher*innen bestimmt wird. Die Teilnahme wird hier durch besondere soziale, kulturelle, rechtliche und technische Normen geformt, welche zwar freiwillig, aber zeitgleich als verbindlich gelten. Diese Voraussetzungen schaffen eine Hierarchie von Macht bzw. Autorität und sorgen oftmals für eine gewisse kulturelle Homogenität innerhalb spezifischer Gruppierungen (vgl. Stalder 2021a, S. 128–163). 

Der Bogen: Kultur der Digitalität und Lern- und Bildungsprozesse

Nach diesem Überblick über die Begriffe der Kultur der Digitalität, fragt ihr euch vielleicht: und was haben Stalders Merkmale nun mit dem Modul „Lern- und Bildungsprozesse“ zu tun? Nun, da sich schon viele Bildungstheoretiker*innen mit dem Merkmal der Gemeinschaftlichkeit im Kontext des Lernens auseinander setzten, passt das vielleicht doch ganz gut zusammen! Dazu wollen wir uns im nächsten Teilbeitrag gern mehr Gedanken machen, kommt mit!

Formalia

Referenzen

  • Abbildung generiert über „DeepAI Bild Generator“ mittels Sucheingabe „Kultur der Digitalität“ am 14.06.2023 um 12:10 Uhr
  • Nünning, A. (2009): Vielfalt der Kulturbegriffe. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (Verfügbar unter: https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/59917/vielfalt-der-kulturbegriffe/ letzter Zugriff: 01.01.2023, 15:00 Uhr) 
  • Stalder, F. (2021a): Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp 
  • Stalder, F. (2021b): Was ist Digitalität? In: Hauck-Thum, Uta; Noller, Jörg (Hrsg.): Was ist Digitalität? Philosophische und pädagogische Perspektiven. Berlin: J.B. Metzler  

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