Mäeutische Reflexionen auf den Beitrag „Sokratische Digitalität“

Mäeutische Reflexionen auf den Beitrag „Sokratische Digitalität“

Lesezeit (inkl. Mediennachweis): 11 Minuten

„Die geläufige Übersetzung von oîda ouk eidōs (οἶδα οὐκ εἰδώς) trifft nicht den Sinn der Aussage. Wörtlich übersetzt heißt der Spruch ‚Ich weiß als Nicht-Wissender‘ bzw. ‚Ich weiß, dass ich nicht weiß.“

Wikipedia: Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Das Sokrates zugeschriebene Zitat „Ich weiß, dass ich nicht(s) weiß“ ist kein Zeugnis eines Nichtwissens. Vielmehr war es seine Kampfansage an das Halbwissen und die fehlende Motivation, nach der Wahrheit – als echtem und sinnhaltigem Wissen – zu suchen. Das öffentliche Verfolgen dieses Ansinnens auf dem Marktplatz über seine mäeutischen Argumentationen schaffte ihm viele Feinde. Oft wurde nämlich sehr schnell deutlich, dass sich rhetorisch gut verkleidete Argumente nicht halten ließen. Das machte die Stärke seiner Vorgehensweise und Philosophie aus.

Dieser Ausschnitt aus dem berühmten Gemälde „Die Schule von Athen“ von Raffael zeigt Sokrates in der Art, wie er wirkte: am Marktplatz (Agora) in der Diskussion mit allen möglichen Menschen, in der er die Mäeutik konkret angewendet hat. Rechts im Bild sehen Platon und Aristoteles zu sehen, die eine jeweils andere Vorstellung davon haben, wie man zu (echtem) Wissen kommen kann. Das Bild stellt auch das Beitragsbild dar.

Die Idee dieses Blogs

Dieser Blogbeitrag baut grundsätzlich auf den Beitrag der drei Studierenden Laura Pauli, Angela Nieting und Andreas Weese auf und wurde im Sinne eines mäeutischen Vorgehens[1]In einer sehr freien Interpreation, also so, wie wir es in einer Kultur der Digitalität nachvollziehen würden. gestaltet. Sehr unmittelbar gehört hierzu also der zweite Blogbeitrag, auf den an den angegebenen Stellen verwiesen wird. Davor aber eine kurze Definition dessen, was ich unter den verschiedenen Begriffen verstehe – und warum sie mir wichtig sind.

Mäeutik

„Meinen ist ein mit Bewußtsein sowohl subjektiv als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten.“

Immanuel Kant (1781): Kritik der reinen Vernunft, S. 822

Mäeutik als Begriff stammt von Maieutik (μαιευτική [τέχνη] maieutikḗ [téchnē] = Hebammenkunst“). Damit bezeichnet man das bereits oben kurz geschilderte und auf Sokrates zurückgeführtes Vorgehen im Dialog bzw. Gespräch, durch Reflexionen und kritisches Nachfragen gemeinsam (manchmal aber auch gegen den Willen der Beteiligten) der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Im klassischen Griechenland stand dieses Verfahren im Gegensatz zur doxa (δόξα; von δοκεῖν [dokein] = erscheinen, scheinen, denken), einer bloßen Meinungsbekundung.[2]In der Philosophie ist, ausgehend von den sokratischen Diologen, eine Meinung eine subjektive Äußerung, der insgesamt eine hinreichende Begründung fehlt. Konsequenterweise unterschied Sokrates die … Continue reading

Digitalität

„Bildung ist eine soziale Praxis.“

Andreas Dörpinghaus (2009): Bildung. Plädoyer gegen die Verdummung, S. 142.

Der Begriff der Digitalität, eine Wortschöpfung und Verbindung von Digital und Realität/Materialität, betont die völlig neuen „Möglichkeiten der Konstitution und der Verknüpfung der unterschiedlichsten menschlichen und nichtmenschlichen Akteure.“[3]Felix Stalder (2016): Kultur der Digitalität, S. 18. Sie bezieht sich auf soziale und kulturelle Praktiken, wie sie die sokratischen Dialoge darstellten. Insofern ist es naheliegend – und in meinen Augen ziemlich fruchtbar – zu überlegen, wie ein mäeutisches Vorgehen in der heutigen Form bzw. im Rahmen einer Kultur der Digitalität aussehen könnte.[4]Hierzu habe ich mir in diesem Blogbeitrag weitere Gedanken gemacht.

Gebildete Menschen reagieren in einer Kultur der Digitalität nämlich nicht auf Reize, sie lernen auch nichts auswendig und reproduzieren nur bereits Gedachtes. Sie antworten auf (echte) Fragen, meint nicht nur Andreas Dörpinghaus.[5]Nicht nur auf die Fragen von Menschen, sondern auch auf Fragen des Stoffes, also von Themen, sowie auch auf Fragen gegenüber der Natur und des Umgangs damit. Gemeint sind damit auch echte Fragen, … Continue reading Und genau hier sind wir wieder bei Sokrates und seiner Mäeutik angelangt.

Mäeutische Reflexionen und Sokratische Digitalität

Ich danke Angela, Laura und Andreas, dass sie diesen Impuls und die grundsätzliche Idee aufgegriffen aufgegriffen haben und beteilige mich gerne an ihrem Versuch. In und mit ihrem Blogbeitrag haben sie versucht, eine solch mäeutische Auseinandersetzung virtuell nachzuspielen. Umgesetzt wurde das Ganze als chronologisch annotierter Austausch der genau dadurch versucht, Mäeutik zu praktizieren. Der Beitrag sollte ihren eigenen Lernprozesses im Rahmen der Lehrveranstaltung nachvollziehbar machen. Ein wenig nachsteuern wollten wir anschließend in der Frage des kritischen Hinterfragens, das wir nun in diesem Teil des Blogbeitrag organisieren. Die Fragen beziehen sich also explizit auf den Ursprungsbeitrag hier, die Antworten, die es darauf gibt, werden im Nachgang in diesem Beitrag gesammelt. Darauf hatten wir uns in der Besprechung vom 21.10.22 geeinigt.


Das Vorgehen

Ab hier beziehen sich meine Beiträge direkt auf die Vereinbarung vorab, die wir per Mail getroffen hatten, sowie den Ursprungseintrag hier auf der Webseite. Die Referenzierung wird jeweils via Link, sofern möglich, gewährleistet.

Alexander

Aus der Mail vom 08.10.22

Liebe Angela, liebe Laura und lieber Andreas
ich bin von der Art Eures Beitrags, er ja eine Reflexion auf einen Lernprozess darstellen soll, begeistert :-). Es ist schön, wie ihr die Leser:innen auf die Reise eure Gedanken mitnehmt. Ich habe aber zwei oder drei inhaltliche Anmerkungen und Erweiterungen, die mir als Lehrbeauftragter wichtig sind. Was haltet ihr davon, wenn ich diese Aspekte, ganz im Sinne eines sokratischen Dialoges, als Frage an euch im Blogbeitrag stelle?

Angela

Aus der Antwort vom 08.10.22

Ich finde deine Idee mit der Nachfrage im Blog super, denn, wie du schon schreibst, bleibt das in der Struktur des Fragens, die wir angefangen haben.

Die Fragen und Antworten

Die behavioristische Lerntheorie

Angela, Du erwähnst in Deinem Eintrag vom 01.08.22 folgendes: „Mir fällt bei allen diesen Arten von Prüfungen immer das Lernen durch Konditionierung am leichtesten.“ Gleich darauf sprichst du davon, dass du supergut auswendig lernen kannst (passt zur Konditionierung) und lieber Bezüge zu bereits Gelerntem herstellst (passt nicht zur Konditionierung).

Behavioristische Lerntheorien des Auswendiglernens und Reproduzierens von Inhalten haben eine sehr begrenzte Reichweite. Es funktioniert bereits beim Sprachenlernen nur für das Lernen von Vokabeln, nicht für das Lernen der Sprache an sich im Sinne eines Praktizierens. Bereits das Verstehen eines Inhalts im Sinne eines Begreifens von Zusammenhängen hat mit dem Behaviorismus nichts mehr zu tun. Davon wiederum wäre noch einmal sinnhaftes Verstehen zu unterscheiden.

Meine Frage an Dich (und natürlich euch drei) ist, wie ihr das Verhältnis von Lerntheorien zu eurem Beitrag bzw. Lernergebnis des Seminars seht?

Antwort von Angela, Andreas und Laura:

Um diese Frage zu beantworten, haben wir uns noch einmal mit Lerntheorien beschäftigt und wollen hier den Leser*innen zuerst einen kurzen Überblick über die bekanntesten Lerntheorien geben:  

Die wohl älteste Strömung der Lernpsychologie ist der Behaviorismus. Hierbei nimmt der Lernende eine innerlich passive Rolle ein. Lernen gleicht einer Reaktion auf äußere Reize. Psychische Prozesse wie Wahrnehmung, Denken, Emotionen und Aufmerksamkeit werden in diesem Ansatz nicht betrachtet. Das beobachtbare Verhalten steht im Vordergrund. Lernen also gleich Reiz-Reaktions-Kette. Ergänzend dazu wird durch den Ansatz des instrumentellen Lernens positives Lernverhalten belohnt und negatives bestraft. Die lehrende Person hat hier die zentrale Rolle Lernanreize zu schaffen und positive oder negative Rückmeldungen auf Reaktionen der Lernenden zu geben. Dieser Ansatz wird heute als unzureichend angesehen, da Wissenserwerb nicht allein als Reaktion auf Reize, sondern als Prozess im Gehirn angesehen wird. In den kognitivistischen Lerntheorien werden aktive Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Informationen als Lernvorgang begriffen. Hier wird Lernen als aktive Fähigkeit angesehen, Lösungen für Probleme durch Verarbeitung neuer Informationen in Rückbezug auf bereits Erlerntes zu generieren. Lehrende bereiten hierbei also den Weg des Lernens zu einem festgelegten Lernziel vor. Eigenverantwortliches und selbst gesteuertes Lernen kommt in diesem theoretischen Ansatz jedoch nur geringe Aufmerksamkeit zu.  

Heutzutage ist der kognitive Konstruktivismus die einflussreichste Lerntheorie. Hierbei werden neu aufgenommene Inhalte durch bereits bestehendes Vorwissen interpretiert werden und anschließend zu weiterführenden Informationen integriert werden. Werden Lerninhalte mit anderen Wissenselementen verknüpft, ist es wahrscheinlicher, dass diese Informationen im Langzeitgedächtnis verankert werden. Der Lernprozess ist hier als aktive Konstruktion von Wissen zu verstehen.[6]Vgl. dazu https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/schule/lehrerinnen-und-lehrer/einstieg-ins-lehramt/einstieg-lehramt-wissenschaftlic/lerntheorien

Nun zu unserem Beitrag und wie er unserer Meinung nach im Verhältnis zu Lerntheorien zu bewerten ist: 

Laut Piaget und dessen Theorie des Konstruktivismus [7]vgl. Glasersfeld, E. (1997): Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. hängt das, was wir Lernen, stark von unserem Vorwissen und der konkreten Lernsituation ab. Leider haben viele von uns in der Schule quasi durch Operante Konditionierung (behavioristischer Ansatz) lernen müssen. Es gab Lob und Bestrafung entweder verbal, in den schriftlichen Beurteilungen oder in Notenform. Schön wäre, wenn Schüler einfach aus Neugier lernen könnten. „Trial and Error“ und das ohne Notendruck und mit den Lehrenden (die auch Lernende sind) auf Augenhöhe. Dann hätte der/die Lernende vielleicht gelernt, dass Lernen natürlich ist und Spaß machen kann. Sozusagen, für das Leben und den lebenslangen Lernprozess lernen. Dies ist hier in unserem Seminar sehr gut zu sehen gewesen: Es wird eine Lernatmosphäre geschaffen, die die individuellen Vorstellungen und Interessen der Studierenden berücksichtigt. So wird eine ganz andere Motivation als Anreiz zum Lernen geschaffen. Wir „trauen“ uns etwas Neues zu probieren und durch eine Rückmeldung von dir und/oder den Kommiliton*innen erleben wir, ob es gut ist oder es die eine oder andere Ergänzung/Verbesserung gibt. Das ist quasi der gelebte Ansatz des kognitiven Konstruktivismus. Wissen selbständig neu konstruieren und reorganisieren. Dieser Lernprozess sieht dann in jedem anders aus, da das Lernen weitgehend selbst gesteuert ist und somit wird ein hohes Maß an Eigenverantwortung vorausgesetzt. Das ist sicherlich hier in dem Seminar der Fall. Ginge es um eine Note, wäre es sicherer etwas zu machen, was wir schon können, quasi Fehlervermeidung um nicht „schlecht dazustehen“. Dabei hätten wir aber weniger Lernerfolg. Durch deine Unterstützung (scaffolding), dein Nachfragen, quasi Coaching, geht es uns wie den Menschen auf dem Marktplatz mit Sokrates: wir können unsere Wissenslücken erkennen und füllen. 

Prüfungen und der Outcome

Laura erwähnt in ihrem Eintrag vom 05.08.2022 zunächst sehr schön und schlüssig, dass „beim Lernen“ das Produkt bzw. der Outcome im Fokus stehen würde, nicht jedoch der Prozess. Das sei aber hier an der Hochschule bzw. bei euch im Masterstudiengang anders, wie Andreas in der Antwort bestätigt. Nicht mehr ausformuliert wird leider, warum das anders ist. Dazu ist meine grundsätzliche Anmerkung die, dass in der Hochschule München der Lehrprozess (im Sinne einer Didaktik), nicht aber der Lernprozess (im Sinne einer Mathetik) die Grundlage der Planungen darstellt. Es würde mich wundern, wenn das so einfach ineinander fallen würde.

Ich persönlich habe dazu insofern eine andere Meinung, als die Konzentration auf den Outcome im Sinne von ECTS im Masterstudiengang,[8]Und der Hochschule München insgesamt, denn der Masterstudiengang ist ja nicht nur in die Fakultät eingebettet, sondern in die generelle Art und Weise, wie an der Hochschule München Lehrprozesse … Continue reading belegt durch unglaublich viele Prüfungen, einen sinnvollen Lernprozess zumindest nicht sehr einfach ermöglicht und am Ende immer wieder dazu führt, dass ihr als Studierende nur noch schaut, die Prüfungen gut über die Runden zu kriegen. Mithin: Eigentlich nur noch daraufhin lernt. In diesem Fall ist meine Frage die, ob ihr etwas spezifischer erläutern könnt, warum die Prozessgestaltung eure Lernprozesse unterstützt? Anders formuliert: Was heißt Lernprozess für euch in diesem Zusammenhang überhaupt und inwiefern ist er in eurem Masterstudiengang anders als der normale Lehrprozess?

Antwort von Angela, Andreas und Laura:

Wie schon in der Antwort auf die erste Nachfrage bezüglich der verschiedenen Lerntheorien angedeutet, haben wir in dem Masterstudiengang in einigen Modulen die Möglichkeit uns auszuprobieren und alternative Lernprojekte zu initiieren. Dazu müssen wir auf der Grundlage der bisher Erlernten neue Fragen und Ideen formulieren und uns so aktiv, intensiv und durch Eigeninitiative mit den Inhalten der Seminare auseinandersetzen. Das setzt natürlich auch ein fundiertes Grundwissen voraus, welches wir in unseren unterschiedlichen Bachelorstudiengängen bereits erworben haben. Das Lernen in selbst organisierten Gruppen mit (relativ) frei gewählten Themen fordert oft viel mehr eigens Denken und Forschen, als es bei schriftlichen Prüfungen, in denen jeder und jedes Wissen reproduziert und ggf. auf neue Situationen transferiert. Wir haben versucht, das ganze etwas bildlicher zu erklären und folgendes ist uns eingefallen: Mit dem Lernen ist es ein bisschen wie beim Wandern in den Bergen: wenn man nur auf den Gipfel (Lernziel z.B. = schriftliche Prüfung) will, nimmt man den einfachsten Weg, wenn möglich die Seilbahn. Dabei entgeht dem Wandernden aber dann all das, was auf dem Weg unterwegs zu sehen und erleben ist, was für weitere Wanderungen einen großen Mehrwert bringen kann (Lernen aus Erlebtem). So ist wohl auch das Lernen eine Erfahrung und ein gemeinsamer Weg zu mehr Erkenntnis. 

Lerntools und Medien

Besonders spannend finde ich auch eure Diskussion gegen Ende des Beitrags, beginnend mit dem Beitrag von Andreas am 19.08.2022. Dort setzt ihr euch sehr schön mit der Frage auseinander, inwiefern digitale Lernwerkzeuge euch geholfen haben und führt dazu auch unterschiedliche Beispiele wie etwa Twitter oder YouTube, wie natürlich auch die Wikipedia, an und beleuchtet sie darauf hin, in welcher Art und Weise sie euch geholfen haben.

Für mich wäre aber vorab zu klären, in welchem Verhältnis diese Lernwerkzeuge zum Medieneinsatz stehen bzw. wie ihr das überhaupt betrachtet. Ist das eher eine Frage persönlicher Präferenzen, ob ich lieber YouTube Videos anschaue oder mich über Twitter informieren lasse? Wie genau würde hier der Lernprozess angetriggert? Bzw. etwas genauer noch einmal nachgefragt: wie genau hängt die Auswahl des Lerntools mit dem Lerneffekt zusammen? Aus meiner Perspektive steuert nämlich Twitter etwas anderes in eurem Lernvermögen an, als es YouTube Videos tun. Es ist also nicht egal, bzw. es ist nicht nur ein anderer Kanal, der medial hier greift.

Antwort von Angela, Andreas und Laura:

Jetzt, da wir noch einmal genauer darüber nachgedacht haben, ist hier natürlich eine Unterscheidung zu machen: 

Zum einen zwischen der Nutzung von digitalen Tools zur eigenen Wissensorganisation (wie beispielsweise Whatsapp Gruppen, Moodle, digitale Kollaborationsplattformen wie Trello oder digitale Whiteboards wie Miro). Diese werden von uns persönlich genutzt, um Lerninhalte mit anderen Lernenden zu teilen und sich selbst und untereinander zu organisieren. So haben wir in unserer Kohorte Wissen an für alle zugänglichen Orten sortiert und zugänglich gemacht.   

Auf der anderen Seite stehen hier die digitalen Möglichkeiten zur Wissensbeschaffung. Hierzu zählen dann für uns beispielsweise YouTube oder eben auch Twitter. Auch hier lassen sich dann aber noch Unterscheidungen treffen.[9]Achtung: Letztlich sind alle diese Kanäle keine wissenschaftlichen Quellen an sich. Angela sagt über ihre Nutzung von YouTube: “Für mich ist YouTube Videos schauen ähnlich wie durch einen Bibliothekskatalog zu scrollen: einen Überblick über ein bestimmtes Thema bekommen und verschiedene Begriffe genauer verfolgen, die mich interessieren und ansprechen. Außerdem finde ich tatsächlich Wikipedia oft sehr hilfreich, weil unter den Artikel die Quellen sind, die mir im nächsten Schritt auch helfen können, mich in ein Thema zu vertiefen und es dadurch wissenschaftlich zu erschließen.” 

Welche Tools man nutzt, hat nicht nur mit der Präferenz für den einen oder den anderen Kanal zu tun, sondern auch mit der Intention der Nutzung. Möchte man tief in ein Thema einsteigen und Zusammenhänge verstehen und erklärt bekommen, so ist man sicherlich auf YouTube zu vielen Themen gut bedient. Twitter bietet eher einen Überblick über verschiedenstes Weltgeschehen und Trends, welche man im Nachgang, um sie besser zu vertehen und das Wissen dazu vertiefen zu können anderswo nachrecherchieren muss (z.B Youtube).

Allgemein hat die Auswahl des Lerntools für uns also sehr viel mit dem letztendlichen Lerneffekt zu tun. Möchte ich mich oberflächlich informieren, Trends verfolgen oder tief einsteigen und langfristig Hintergründe verstehenje nach Bedarf orientiert man sich dann an verfügbaren Kanälen.

Wikipedia und die Mäeutik

Am Ende noch etwas, was mich immer schon umtreibt, aber jetzt gar keine Frage mehr an Euch ist: Dass die Wikipedia kein wissenschaftliches Nachschlagewerk sei, wurde zwar sehr schnell – insbesondere von selbst ernannten oder wirklichen Expert:innen wie etwa Lehrbeauftragten behauptet – aber nie wirklich nachvollziehbar und empirisch valide getestet.[10]Die Idee hinter der Wikipedia ist ziemlich alt, dass nämlich das jeweils aktuelle Wissen der Gesellschaft in einem Überblick niedergeschrieben, systematisiert und mit Querverweisen versehen werden. Im Gegenteil: sehr schnell stellte sich heraus, dass die Wikipedia den bis dahin durchaus als wissenschaftliche Nachschlagewerke geadelten Medien wie dem Brockhaus oder der Enzyklopädia Britannica voraus war – sowohl in Aktualität, als auch im Detailgrad der hinterlegten Informationen. Am Ende schlägt nämlich in der Wikipedia die kollektive Intelligenz auf, nicht die individuelle Fachexpertise.[11]Oder die Fachexpertise ausgewählter Zirkel, wie sie in den Enzyklopädien angewandt wurde, die damit die Deutungshoheit über die Themen hatten.

Am Ende hat die Wikipedia in beiden Fällen dazu geführt, dass diese Werke, zumindest in der alten Form, nicht mehr existieren. Und zwar gerade deshalb, weil öffentlich und transparent nachvollziehbar wurde (und bis heute ist) wie die Einträge entstanden sind und wer welche Aspekte und Interessen eingebracht hat.[12]Nachvollziehbar ist es bei jedem Eintrag über den Reiter „Diskussion“. Das ist davon unabhängig, dass man sich in jedem Werk vergewissern sollte, wie es um den empirischen oder auch Wahrheitsgehalt steht. Das eigentlich spannende und nachgerade revolutionäre[13]Die eigentliche Revolution ereignete sich also als kulturelles bzw. „sozial-ökonomisches Phänomen“ der Peer-Produktion, wie Benkler und Nissenbaum (2002: 1) in ihrem Aufsatz ausführen. an der Wikipedia ist ja tatsächlich, dass Jede:r dazu beitragen kann und die Diskussionen über die Inhalte der verschiedenen Themen, sofern sie natürlich stattfinden, dem mäeutischen Vorgehen von Sokrates nahekommen.[14]Auch hierbei handelt es sich um eine sehr freie Interpretation. Ich finde aber, dass es im Kern zutrifft. Dahinter verbirgt sich nämlich – zumindest bei den wichtigen oder zentralen Themen – eine tatsächliche Diskussion und kritische Reflexion. Das wiederum knüpft aber sehr schön an unseren Einstieg an, dass dieses Vorgehen an mäeutische Prozesse gebunden werden kann und damit fruchtbar anzuwenden ist.

So gesehen können Wikis allgemein als digitale mäeutische Instrumente der Peer-Produktion von Wissen gesehen werden. Als Lerninstrument oder Medium verstanden ist die Wikipedia nämlich nicht deshalb so hilfreich, weil sie spezifische Informationen enthält, sondern weil der Prozess der Entstehung dieser Informationen ein kollaborativer Vorgang ist. Wikis und ihre Erstellung reihen sich ein in das Kapitel der Erstellung und Pflege von Gemeingütern, dem Commoning.[15]Beim Commoning kommt der kreativen und gestaltenden Tätigkeit als „peer production“ (Benkler & Nissenbaum 2002, s.o.) der wesentliche Aspekt zu. Das Ergebnis der Zusammenarbeit existiert … Continue reading Das macht am Ende auch Felix Stalder für eine Kultur der Digitalität stark. Das eigentlich starke an dieser kulturellen Leistung sind insofern die Creative Commons und auch OER, also Open Educational Resources, in den wir auch diesen Blogbeitrag einreihen. Das Wertvolle des Commoning gilt übrigens ganz besonders für den Einsatz im Bereich der sozialen Arbeit, insbesondere der Sozialpädagogik.

Kommentar von Angela, Andreas und Laura:

Auch wenn es hier keine direkte Frage mehr an uns gab, wollen wir gerne ein paar Sätze dazu schreiben. Deine Ausführungen zu Wikipedia finden wir alle sehr spannend – wie oft haben wir mit Wikipedia angefangen, uns einen Überblick über ein Thema zu verschaffen, bevor wir in die wissenschaftliche Recherche eingestiegen sind. Tatsächlich haben wir uns über die Entstehung und Beschaffenheit des gesammelten Wissens auf Wikipedia bisher eigentlich keine großartigen Gedanken gemacht, da es bei uns hauptsächlich als „no go“ Quelle abgespeichert ist. Der Blick auf Wikipedia als ein Ort der gemeinschaftlichen Produktion von Wissen als digitaler mäeutischer Prozess ist hier ein Aspekt, den wir bisher nicht gesehen haben – wieder was gelernt ;-).

Formales

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References

References
1 In einer sehr freien Interpreation, also so, wie wir es in einer Kultur der Digitalität nachvollziehen würden.
2 In der Philosophie ist, ausgehend von den sokratischen Diologen, eine Meinung eine subjektive Äußerung, der insgesamt eine hinreichende Begründung fehlt. Konsequenterweise unterschied Sokrates die Doxa von Wissen, also der Epistêmê [ἐπιστήμη = Wissen], auf das er im Regelfall im Dialog hinauswollte.
3 Felix Stalder (2016): Kultur der Digitalität, S. 18.
4 Hierzu habe ich mir in diesem Blogbeitrag weitere Gedanken gemacht.
5 Nicht nur auf die Fragen von Menschen, sondern auch auf Fragen des Stoffes, also von Themen, sowie auch auf Fragen gegenüber der Natur und des Umgangs damit. Gemeint sind damit auch echte Fragen, nicht nur Testfragen, ob irgendetwas verstanden worden ist.
6 Vgl. dazu https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/schule/lehrerinnen-und-lehrer/einstieg-ins-lehramt/einstieg-lehramt-wissenschaftlic/lerntheorien
7 vgl. Glasersfeld, E. (1997): Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
8 Und der Hochschule München insgesamt, denn der Masterstudiengang ist ja nicht nur in die Fakultät eingebettet, sondern in die generelle Art und Weise, wie an der Hochschule München Lehrprozesse gestaltet werden.
9 Achtung: Letztlich sind alle diese Kanäle keine wissenschaftlichen Quellen an sich.
10 Die Idee hinter der Wikipedia ist ziemlich alt, dass nämlich das jeweils aktuelle Wissen der Gesellschaft in einem Überblick niedergeschrieben, systematisiert und mit Querverweisen versehen werden.
11 Oder die Fachexpertise ausgewählter Zirkel, wie sie in den Enzyklopädien angewandt wurde, die damit die Deutungshoheit über die Themen hatten.
12 Nachvollziehbar ist es bei jedem Eintrag über den Reiter „Diskussion“.
13 Die eigentliche Revolution ereignete sich also als kulturelles bzw. „sozial-ökonomisches Phänomen“ der Peer-Produktion, wie Benkler und Nissenbaum (2002: 1) in ihrem Aufsatz ausführen.
14 Auch hierbei handelt es sich um eine sehr freie Interpretation. Ich finde aber, dass es im Kern zutrifft.
15 Beim Commoning kommt der kreativen und gestaltenden Tätigkeit als „peer production“ (Benkler & Nissenbaum 2002, s.o.) der wesentliche Aspekt zu. Das Ergebnis der Zusammenarbeit existiert dann „in Form von reziproken Beziehungen“ (Muhl 2013, S. 48).
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