Ermöglicht die Nutzung digitaler Bildung mehr Autonomie?

Ermöglicht die Nutzung digitaler Bildung mehr Autonomie?

Lesezeit (inkl. Mediennachweis): 5 Minuten

Der Begriff Bildung

Wenn man sich mit dem Begriff der digitalen Bildung beschäftigt, muss klargestellt werden, über welchen Sachverhalt konkret geredet wird. Für den Begriff der Bildung gibt es eine Unmenge an Definitionen beziehungsweise Denkrichtungen. Die mir bekannteste Einteilung ist die in informelle und formelle Bildung. Formelle Bildung stellt dabei alles dar, was mit der Absicht einhergeht etwas aktiv/absichtlich zu vermitteln. Dies ist überwiegend in den institutionellen Bildungseinrichtungen, welche man im Laufe seines Lebens durchlaufen muss oder kann, der Fall. Sie sind meist streng hierarchisch geprägt mit dem Gefälle des Lehrenden, der über dem Lernenden steht. Die informelle Bildung ist wiederrum alles, was man sich an Fähigkeiten und Wissen, häufig unbewusst durch Erfahrung, aneignet. Oftmals fällt im gleichen Wortlaut der Begriff der Selbstbildung.[1] Wie Herr Sauter im Video „Wissen ist keine Kompetenz“ nannte, besagen Studien, dass man 80 % seines Wissens außerhalb der institutionellen Einrichtungen erlangt[2]. Denn Bildung kann man nicht nur „reinstopfen“, sie muss der lernenden Person auch etwas bedeuten.

Laut Sting [1] gibt es noch die nicht-formelle Bildung. Wenn ich nun über die Einordnung der digitalen Bildung zwischen informeller oder formeller Bildung nachdenke, scheint wohl die Beschreibung der nichtformellen durchaus einen Teil davon darzustellen. Zur nichtformellen Bildung gehören Angebote, die wie bei der formellen Bildung darauf abzielen, einen Mehrwert an Wissen zu erlangen, aber dennoch wie bei der informellen Bildung freiwillig und passend zu den individuellen Vorlieben und Gegebenheiten genutzt werden können. Dies spricht schon einen der großen Vorteile der digitalen Bildung an, denn einen Großteil der Formate kann man zeitlich frei nach den eigenen Lebensbedingungen und Lust einteilen. Diese Einteilung der digitalen Bildung scheint aber definitorisch nicht dem Umfang der digitalen Bildung gerecht zu werden.

Das Netzwerk digitale Bildung definiert wie folgt:[3]

Digitale Bildung beschreibt, wie sich der gesamte Prozess der Bildung mit dem Einsatz digitaler Medien und auch in Hinblick auf das Bildungsziel grundlegend verändert. Bildung ist ein kontinuierlicher Prozess, der Menschen befähigt, ihr Leben und Lernen in einer digitalisierten Welt aktiv zu gestalten. Dabei geht es nicht mehr um den Erwerb von Faktenwissen – viel bedeutender wird die Kompetenz, sich Wissen selbstorganisiert anzueignen, es anzuwenden und kreative Lösungen für Problemstellungen eigenständig entwickeln zu können.“

Diese Definition beschreibt besonders mit dem ersten Satz eine Auffassung, die viele im Master GWT teilen, nämlich, dass man analoge Bildung nicht einfach eins zu eins in digitale Bildung überschreiben kann. Besonders durch das aktuelle virtuelle Semester wird deutlich, dass man sich andere didaktische Methoden zu eigen machen muss. Der Lehrende sollte stets reflektieren, ob die für die Präsenzlehre vorbereitete Vorlesung ohne Änderung der didaktischen Methoden auch in der virtuellen Lehre zu den gleichen Ergebnissen führen kann. Virtuelle Vorlesungen werden in Feedbacks von Studierenden oftmals als noch ermüdender als in der Präsenzlehre beschrieben. Somit sollte man sich über eine alternative Gestaltung Gedanken machen, beispielsweise durch Gruppenarbeiten oder eigenständiger Bearbeitung der Lerninhalte vor oder nach der Sitzung.

Exkurs: „Räume“ – Perspektivwechsel in der Bildungsdiskussion hin zu einer Ermöglichungsdidaktik

Eine Möglichkeit im Zuge eines Gedankenwandels beim Begriff Bildung ist ein verstärkter Blick auf den „Raum“, sowohl im metaphorischen als auch im „greifbaren“ Sinne. Laut Sesink hat die Pädagogik eine „eigene Räumlichkeit“, Pädagogik und Raum sind miteinander zu denken. Wohl genauso wie man bei digitaler Bildung die Technostruktur (die neuen Technologien als weiteres Tool zur Kommunikation [5]) und die Soziokultur (sozusagen die Lernatmosphäre, sowie der Umgang zwischen Lehrenden und Lernenden) miteinander oder in Abhängigkeit voneinander denken muss. Beide stellen meiner Meinung nach „Räume“ dar. Die Technostruktur ist der Rahmen der digitalen Bildung, wie der Grundriss eines Raumes, den man anfassen kann, der Wände, Fenster und Türen hat. Ohne diese wäre die Voraussetzung für digitale Bildung gar nicht erst gegeben. Die Soziokultur ist die soziale, inhaltliche Komponente des Lernraumes, den es auch bei der digitalen Bildung gibt. Hier geht es darum ein gutes Miteinander zu pflegen, den respektvollen Umgang und die pädagogische Haltung des Lehrenden.

Werner Sauter nennt in dem Interview zum Thema „umdenken des Bildungsbegriffes“ die sogenannte Ermöglichungsdidaktik, nach der man beginnen sollte zu arbeiten. Dies würde den aktuellen Richtungstrend der institutionellen Bildungseinrichtungen grundlegend verändern. Dabei sollen realistische Lernprozesse gestaltet werden, die dann die Lehrenden zu Lernbegleitern wandeln. So würde man weg von einem inputorientierten Bildungsverständnis hin zu einem persönlichkeitsfördernden Raum wechseln. Lernende sollen nicht gekränkt werden, sondern in ihrer Selbstwirksamkeit gestärkt. Sauter und Erpenbeck kommen in dem Interview zu dem Ergebnis, dass es genug Ansätze gibt, die diesen Weg schon einschlagen, wie Montessori, Waldorf und Co., aber auch in der Grundschulpädagogik. Eine laut ihnen bessere Bildung, doch die aktuelle Standardbildung bleibe weiterhin die kontrollierbarere.[2]

Autonomie und Freiheiten im Lernprozess

Nun zurück zu der Frage. Ja, durch eine gut eingesetzte Nutzung digitaler Bildungsmöglichkeiten kann bzw. wird meiner Meinung nach das Spektrum der Bildungsangebote erweitert und somit auch die Menge der Möglichkeiten. Ob die Möglichkeiten nun mehr Autonomie fördern, wird sich wohl in der Reflexion des aktuell bundesweiten Wechselns auf virtuelle Lehrmöglichkeiten zeigen.

Autonomie ist wieder einer der Begriffe, die man endlos definieren könnte. Nach Rössler hat Autonomie mit Übernahme von Verantwortung zu tun, die man nur übernehmen kann, wenn man über Freiheiten verfügt. Und zwar sowohl die positive Freiheit, also die Kontrolle über das zu haben was man selbst möchte und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, als auch die negative Freiheit, also die Abwesenheit von Hindernissen oder Beschränkungen.[6]

Wendet man nun die Definition von Autonomie an, dann kann digitale Bildung bzw. in unserem Fall ein virtuelles Semester sowohl die Übernahme von Verantwortung, z.B. durch häufiges Feedback geben und bekommen, als auch an Freiheit in der zeitlichen Einteilung sowie in der Herangehensweise an Aufträge, bedeuten.

Fazit

Somit ist diese Frage in der Theorie mit JA zu beantworten. Aktuell hat die Umsetzung der digitalen Bildung allerdings mit deutschen Rahmenbedingungen zwei Haken.

Erstens basiert laut des Papers des Bundesministeriums für Bildung und Forschung digitale Bildung auf einem gleichberechtigten Zugang.[7] Doch nicht alle Menschen haben die gleichen Möglichkeiten (Hardware, Software, Skills). Da der Begriff der Autonomie so eng mit dem der Freiheit verbunden ist, kann die Erweiterung zu digitaler Bildung für diejenigen, die mit allen genannten Möglichkeiten gut ausgestattet sind einen großen Mehrwert darstellen im Vergleich zu all denjenigen, die nicht so viele Möglichkeiten haben. Für diese wird die Schere der Ungleichheit und somit der Bildungsgerechtigkeit immer weiter.[8]

Zweitens, sollte nun die Basis für einen gleichberechtigten Zugang gelegt worden sein, drängt sich mir immer häufiger eine Frage auf: Sprechen wir, im Zuge der Diskussion um digitale Bildung und der Reflexion der ausschließlichen Nutzung der digitalen Formate, von einer Ergänzung zu analoger Bildung oder einer Konkurrenzoption?  Denn letzteres und somit die Ersetzung von analoger Bildung, bereitet mir Sorge. Ich denke man kann einen großen Mehrwert aus der aktuellen Situation und somit der Nutzung digitaler Bildung erlangen. Durch die gute didaktische Aufbereitung, die mir aktuell in meinem Studium geboten wird, findet meiner Meinung nach eine echte „Ermöglichungsdidaktik“ nach Sauter statt. Ich persönlich bemerke, dass ich Texte eigenverantwortlicher lese und beispielsweise durch Gruppendiskussionen vor der Besprechung mit den DozentInnen viel ernster nehme und deutlich besser verarbeite und verinnerliche, als das stupide Vorbereitungslesen auf ein Seminar, in dem man sowieso alles noch einmal vom Dozenten erzählt bekommt. Dennoch fällt mir der Austausch mit der Großgruppe in der virtuellen Präsenz deutlich schwerer als in der eigentlichen Präsenz. Wodurch ich die echten Präsenzsitzungen mit einer belebten Diskurskultur doch sehr vermisse.

Sehen wir also digitale Bildung als Chance für eine Erweiterung der Möglichkeiten, die mehr Autonomie und Selbstwirksamkeit ermöglichen, jedoch nicht als Ersatz zu persönlichem Kontakt und analoger Bildung!

Literaturverzeichnis:

[1] Sting, Stephan (2005) Bildung jenseits von Schule? Perspektiven zur Förderung von Bildungsprozessen in der Jugendhilfe, in: Spies, Anke; Stecklina, Gerd und Richter, André (Hrsg.), Dimensionen und Reichweiten des Entwicklungsbedarfs. Bad Heilbrunn, S.22-34

[2] Wissen ist keine Kompetenz (Video). Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=6OZqtEgJ87c

[3] Netzwerk Digitale Bildung (o.J.) Thesen für die Digitale Bildung – Empfehlungen an Entscheidungsträger. Verfügbar unter: https://www.netzwerk-digitale-bildung.de/wp-content/uploads/NDB-Thesen-f%C3%BCr-die-Digitale-Bildung.pdf

[4] Werner Sesink (2014): Überlegungen zur Pädagogik als einer einräumenden Praxis. Verfügbar unter: http://2014.gmw-online.de/wp-content/uploads/029.pdf

[5] „This will revolutionize education“ (Video). Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=GEmuEWjHr5c

[6] Rössler, Beate (2017) Autonomie. Ein Versuch über das gelungene Leben. Berlin: Suhrkamp Verlag

[7] Bundesministerium für Bildung und Forschung (2016) Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft. Strategie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Verfügbar unter: https://www.bmbf.de/files/Bildungsoffensive_fuer_die_digitale_Wissensgesellschaft.pdf

[8] Eickelmann, Birgit (2015) Bildungsgerechtigkeit 4.0. Verfügbar unter: https://www.boell.de/de/2015/04/27/bildungsgerechtigkeit

Bildquelle: Beitragsbild von jopwell auf Pexels

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