Back to the roots – to start the future! Bildung neu „humboldtisieren“

Back to the roots – to start the future! Bildung neu „humboldtisieren“

Lesezeit (inkl. Mediennachweis): 5 Minuten

Im humboldtschen Idealtypus von Bildung begegnet der Mensch durch Bildung seinem „wahren Zweck“, nämlich indem er seine Kräfte zu einem Ganzen vereinigt. Humboldt sieht dies nur durch die Freiheit gewährleistet und durch ein aktiv gestaltendes Selbstwirken in der Auseinandersetzung mit der Welt (vgl. Vogel 2008, S. 123). Doch ab dem 19. Jahrhundert ist der Ort, zu dem man zu dieser Bildung gelangt, das humanistische Gymnasium geworden. D. h. der Bildungsbegriff wurde gleichgesetzt mit Allgemeinwissen, verfehlte damit die Idee Humboldts und spaltete die Menschen in Gebildete und Nicht-Gebildete. Durch eine klare Lernstoffvorgabe, was als wissenswert gilt, geht es seit langem nur noch darum, wie der Lernstoff didaktisch und methodisch an den Lernenden herangebracht wird und welche Medien den Inhalt am besten aufbereiten. Der Lehrende signalisiert den Allwissenden. Der Lernende wird dadurch jedoch in eine gewisse Passivität gezwungen, da eine selbst-aktive Auseinandersetzung mit dem Inhalt und ein eigener Zugang dazu nicht ermöglicht wird. Schulbildung wurde mit der Einführung der Schulpflicht in feste, institutionelle Zeit- und Raumstrukturen gesteckt. Lernen findet nur in diesen dafür vorgesehenen Institutionen statt, alles außerhalb dieser Zeit ist Freizeit und kein Lernen. Doch spätestens seit PISA 2000 (Programme for International Student Assessment) wissen wir, dass dieses Bildungssystem die soziale Ungleichheit mehr und mehr reproduziert (vgl. Artel, Baumert et. al. 2001). Bildung tritt in den Fokus gesellschafts-politischer Diskurse. Und wie es in dem Film „This will revolutionize education“ von Veritasium historisch rückblickend aufgezeigt wird, werden immer wieder neue, vor allem in der Technik, mediale Möglichkeiten gesucht, Bildung leichter und für jeden zugänglich zu machen. Doch bevor der Bildungsbegriff nicht wieder an der Ideologie Humboldts ansetzt, werden auch neue technische Möglichkeiten keine Bildungsveränderung bewirken!

Selbstbildung aus der Sicht, dass das Subjekt sich seine Welt in Wechselwirkung mit seiner Umwelt selbst konstruiert, wird zum zentralen Aspekt für Lern- und Bildungsprozesse. Dabei ist Selbstbildung kein einseitiger Prozess, vielmehr ist die Aktivität aller Beteiligten gefragt. Die Soziokultur, darunter fallen die sozialen Bindungen, die Interaktionen und die sozialen Umweltbedingungen, beeinflussen den Lern- und Bildungsprozess von Anfang an mit (vgl. Sting 2005, S. 26). Wird Bildung als ein lebenslanger Prozess verstanden, in der aktiven, reflexiven Auseinandersetzung mit sich, den anderen und der Umwelt, in der Auslegung eines ganzheitlichen Verstehens eigener Sinnbedeutungen und im Erwerb von Kompetenzen, so steht einer Reform nichts mehr im Wege und kann in den technischen Möglichkeiten eine gewinnbringende Informations- und Vernetzungsergänzung finden, sowie einen Raum für gestalterische Selbstwirksamkeit. Ludwig und Petersheim sehen diese technischen Möglichkeiten im Sinne Winnicotts, „[…] als eine Art Zwischen-Raum – [ein] intermediärer Raum zwischen Innen und Außen“, der eine subjektiv-objektive Vermitllungsfunktion inne hat (Ludwig, Petersheim 2004, S. 6). Die Vernetzungs- und Gestaltungsmöglichkeit virtueller Räume spielt dabei die entscheidende Rolle. Digitale Bildung darf nicht nur als Kompetenzerwerb zur Mediennutzung angesehen werden, wie es das Kultusministerium in ihrem Konzept beschreibt (siehe Kultusministerium 2019), sondern als ein selbst gestaltbarer Raum in Unabhängigkeit der Dimensionen Raum und Zeit. Bisher setzt sich der Gedanke der Technostruktur in den institutionellen Vorgaben lediglich aus der Finanzierung für die technische Ausstattung und im Erwerb mit den Kompetenzen zum Umgang dieser Technik zusammen. Die Bildung jedoch wird weiterhin in feste institutionelle Raum- und Zeitstrukturen verankert und im digitalen Raum von den dafür ausgebildeten Lehrenden vorgegeben und festgelegt. Den virtuellen Raum als gemeinsam gestaltbaren, potenziellen Lernraum zu nutzen, wird meist noch außer Acht gelassen. Wenn wir uns auf eine relativ junge Lerntheorie beziehen, die sich auf das Lernen im digitalen Zeitalter auseinandersetzt, der „Konnektivismus“, so wird der Mensch vor allem als ein vernetztes Individuum gesehen. Nicht nur der Einzelne wird als Netzwerk betrachtet, sondern die ganze Umgebung ist ein Wissensnetzwerk und jeder ein Wissensträger (vgl. Lerntheorien Video). Wir lernen somit voneinander und miteinander. Hierfür werden vor allem Selbst- und Sozialkompetenzen zur Kollaboration, Kommunikation, Kreativität und zum kritischen Denken immer wichtiger. Und genau hier sollten wir in der analogen Bildung der Kindheit und Später ind der digitalen Bildung ansetzen.

„Agancy“ als Qualitätsmerkmal für digitale Lehr-Lernkontexte!

Natürlich ist eine komplexe, undurchschaubare digitale Welt mit Gefahren verbunden, die offenkundig aufgezeigt werden müssen, so sieht Zygmunt Bauman in ihrem Essay „Die Angst vor den anderen“ einen negativen Effekt der Online-Welt darin, dass die Handlungsmacht jedes Einzelnen gefährlich und oft unüberlegt dort stattfinden kann (vgl. Bauman 2018, S. 102 ff.). Allerdings könnte diese Handlungsmacht in Bildungs- und Lernprozessen eine positive Wirkung bedeuten, solange der Raum geschützt und die Lehr- Lerngruppe in ihren Beziehungen vertraut und akzeptanzvoll im gemeinsamen Miteinander verbunden ist. In der soziologischen Kindheitsforschung wird der Erwerb von Handlungsfähigkeit als eine notwendige Voraussetzung beschrieben, um ein positives Selbstkonzept zu entwickeln und verantwortungsvoll und reflexiv zu interagieren. Moran Ellis und Hutchby nennen dieses Konzept für Handlungsfähigkeit „Agency“. Diese Fähigkeit muss sich das Kind als soziale Kompetenz durch interaktionelle Gegebenheiten erst aneignen. Soziale Kompetenz ist demnach ein Produkt sozialer Interaktion. Diese Interaktion des Kindes – indem es handlungsmächtig agiert – hängt individuell von der Situation mit dem Gegenüber und von den vorhandenen Machtstrukturen, ebenso wie von Zeit und Raum ab und der Ausdrucksmöglichkeiten des Kindes selbst (vgl. Moran Ellis 20014, S. 176 ff.). Digitale Lehr- und Lernkontexte können hier ansetzen und ihre Qualität und Wirksamkeit anhand des Indikators „agancy“ reflektieren.

Zusammenfassend bedeutet dies für mich, dass Bildung als ganzheitliche bildung verstanden werden muss und Lernen immer und überall stattfinden kann. Ausschlaggebend sind allerdings die Voraussetzungen zur Kompetenzentwicklung durch das Erkennen der eigenen Stärken und Schwächen und der Bildung eines positiven Selbstkonzepts. Dies beginnt von Geburt an und hat bis zur Pubertät mehr mit der Bildung aus „erster Hand“, wie es Schäfer nennt, zu tun (vgl. Schäfer 2016). Erst wenn die eigene Selbstwirksamkeit im aktiven Tun mit der realen gegenständlichen Welt begriffen wird, erst dann kann diese Wirksamkeit auf andere Bereiche übertragen und genutzt werden. Digitale Bildung kann in dieser Auslegung und in Bezug auf selbst gestaltende Handlungsmöglichkeiten eine bedeutende Bereicherung für Lern- und Bildungsprozesse darstellen.

Lasst uns Bildung wiederentdecken – als Selbstbildung und als Handlungsmöglichkeit des Lernenden durch eine vernetzte, kompetente Kooperation!

Quellen:

Artel, C.; Baumert, J.; Klieme, E.; Neubrand, M.; Prenzel, M.; Schiefele, U.; Schneider, W.; Schürmer, G.; Stanat, P.; Tillman, K.-J.; Weiß, M. (Hrsg.) (2001) PISA 2000. Zusammenfassung zentraler Befunde. Berlin. MaxPlanck-Institut für Bildungsforschung.

Bauman, Zygmunt (2018) Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache. Berlin. Suhrkamp-Verlag.

Kultusministerium (2019) Empfehlungen zur Digitalisierung in der Hochschullehre. Verfügbar über: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2019/2019_03_14-Digitalisierung-Hochschullehre.pdf.

Lerntheorien- Vom Behaviorismus bis zum Konnektivismus (Video) Verfügbar über: https://www.youtube.com/watch?v=qLjXxQ0VXpE

Ludwig, Joachim; Petersheim, Albert (2004) Virtuelle Bildungsräume als Brücke zwischen Lernen und Handeln. In: Bender, W. (Hrsg.) Lernen und Handeln. Verfügbar über: http://www.projekt-be-online.de/veroeffentlichungen/pdf/virtuellebildungsraeume.pdf

Moran Ellis, Jo (2014) Agency und Soziale Kompetenz in früher Kindheit. In: Braches-Chyrek, Rita; Röhner, Charlotte; Sünker, Heinz; Hopf, Michaela (Hrsg.) Handbuch Frühe Kindheit. Opladen, Berlin, Toronto. Barbara Budrich Verlag. S. 171-181.

Schäfer, Gerd (2016) Bildungsprozesse im Kindesalter. Selbstbildung, Erfahrungen und Lernen in der frühen Kindheit. 5. Auflage. Beltz Juventa-Verlag.

Sting, Stephan (2005) Bildung jenseits der Schule? Perspektiven zur Förderung von Bildungsprozessen in der Jugendhilfe. In: Spies, Anke; Stecklina, Gerd (Hrsg.) Die Ganztagsschule – Herausforderungen an Schule und Jugendhilfe. Band 1: Dimensionen und Reichweiten des Entwicklungsbedarfs. Bad Heilbrunn. Verlag Julius Klinkhardt.

Vogel, Peter (2008) Bildung, Lernen, Erziehung, Sozialisation. In: Thomas Coelen. Hans-Uwe Otto (Hrsg) Grundbegriffe Ganztagsbildung. Das Handbuch. Verlag für Sozialwissenschaften. S. 118-121

Veritasium: This will revolutionize education. Verfügbar unter: http://www.ted.com/talks/michael_bodekaer_this_virtual_lab_will_revolutionize_science_class

Bildquelle:

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

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