Das humboldtsche Bildungsideal und die Online-Lehre in Zeiten der Pandemie

Das humboldtsche Bildungsideal und die Online-Lehre in Zeiten der Pandemie

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Humboldt, Adorno, Heydorn und der neuhumanistische Bildungsbegriff

Aus meiner Perspektive sind die Anforderungen an die Bildungsziele der digitalen und der analogen Bildung sehr ähnlich. Und dabei lohnt es sich zunächst einmal einen Blick auf den neuhumanistischen Bildungsbegriff zu werfen.

Nach der neuhumanistischen Bildungskonzeption ist Bildung ist die vielseitige und zweckfreie Beschäftigung des Individuums mit der Umwelt (vgl. Sarweh 2016). Nach dem Humboldtschen Bildungsideal ist Bildung mehr als die reine Aneignung von Wissen. Vielmehr steht Individualtiät und Persönlichkeitsentwicklung im Mittelpunkt. Bildung ist also ein Prozess der Individualisierung, durch den der Mensch seine Persönlichkeit ausbilden kann. Selbstbestimmung und Mündigkeit soll durch Vernunftgebrauch hergestellt werden. Bildung umfasst zwei wesentliche Aspekte. Zum einen den individuellen Gestaltungsauftrag im Sinne einer Selbstverwirklichung und zum anderen die Verantwortung der Weltbürger gegenüber dem Gemeinwesen (vgl. Tenorth 2013). Ferner hat Bildung einen Wahrheitsanspruch, was so ziemlich das Gegenteil von Fake News darstellt. Bildung beinhaltet also immer auch eine kritische Reflexion der eigenen Positionen. Nach Humboldt soll die Universität ein Ort sein, an dem autonome Individuen und Weltbürger hervorgebracht werden. Oder: sich selbst hervorbringen. Denn Bildung wird durch sich selbst vollzogen und kann nicht vermittelt werden. Ferner soll universitäre Bildung unabhängig von wirtschaftlichen Interessen sein (vgl. Hofman 2010). Heydorn und Adorno beziehen sich auf Humboldts Begriff der humanistischen Bildung.

Adorno kritisiert die Bildungspraxis mit dem Begriff der Halbbildung, der den Gegensatz zur Bildung darstellt. Die Ursache der Halbbildung sieht er in der Verdinglichung der Bildung und Entindividualisierung. Halbbildung gehe mit einem Konformismus einher und entbehre Selbstständigkeit. Dies führe dazu, dass der Mensch kein kritisches Bewusstsein bilden könne. Schulbildung ist zum Synonym für Halbbildung geworden. Adorno zufolge ist „[d]as Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe von Bildung sondern ihr Todfeind“. Nach Adorno hat Bildung immer einen interaktiven und sozialen Aspekt. An der Stelle geht Heinz-Joachim Heydorn, einem Begründer der kritischen Bildungstheorie, noch weiter und spricht von einer „Unbildung“: „Unbildung sei das Ergebnis, die Unterwerfung unter die Logik der Ökonomie, Bildung werde als Ware betrachtet und gegen ihren eigenen Wert deformiert“.

Gesellschaft kritisch betrachten zu können steht im Zentrum des neuhumanistischen Bildungsideals mit dem Ziel der freien, gleichen und mündigen Bürger*innen. Immer wieder wird die Gefahr des Verflachens des (neu)humanistischen Bildungsideals im neoliberalen Zeitalter betont durch eine Ökonomisierung der Bildung. Konkret bedeutet das beispielsweise eine Arbeitsmarktanpassung, Selbstoptimierung, Verwertbarkeits- und Brauchbarkeitsökonomie. Die Anpassung an die Marktlogik scheint im Bildungssektor nicht wünschenswert und steht diametral dem neuhumanistischen Bildungsideal entgegen.

Bildung und Herrschaft

Früher hatte Bildung das Ziel, eine Abgrenzung zwischen Herrschenden und Beherrschten (Proletariat) herbeizuführen (vgl. Sarweh 2016). Nicht verwunderlich also, dass Bildung im Kontext von Herrschaftsverhältnissen zum Gegenstand der Kritik bei Heydorn und Adorno geworden ist. Heydorn arbeitete an einer Neufassung des Bildungsbegriffs und behandelte die Widersprüche von Bildung und Herrschaft. Auch Adorno denkt die Halbbildung in Kontext von Macht- und Herrschaftsverhältnissen und stellt fest, dass das Bildungsbürgertum die Maßstäbe dafür setzt, was als Bildung gilt und was nicht (vgl. Reitmeyer 2007, S. 3 ff.). Das bedeutet auch, dass Bildung als Herrschaftsinstrument gedacht werden kann, welches einen Ausschluss von Bildung zur Folge hat und Nährboden für Bildungsbenachteiligung ist. Dies spiegelt auch aktuelle Verhältnisse wieder, in denen Bildungsabschlüsse immer noch sehr an Klassenlagen gebunden sind.

Gleichzeitig ist aber auch der Trend zu beobachten, dass der Notwendigkeit eines Hochschulabschlusses immer größere Bedeutung beigemessen und die Studierendenschaft immer heterogener wird. Da gibt diejenigen, die nahtlos nach dem Abitur ein Studium beginnen, Quereinsteiger, Berufstätige in Weiterbildung, Teilzeitstudierende mit kleinen Kindern. Sie haben unterschiedliche Bedürfnisse und brauchen Studienbedingungen, die zu ihrer Lebenswelt passen.  Dräger/Friedrich/Müller-Eiselt halten fest: „Wir scheitern, wenn wir ihnen den gleichen Stoff, mit der gleichen Methode, zur gleichen Zeit, im gleichen Raum, vom gleichen Dozenten, im gleichen Tempo vermitteln.“ (vgl. Dräger/Friedrich/Müller-Eiselt 2014, S. 6. Daraus folgert der Bedarf einer Personalisierung der Hochschullehre. Digitale Bildung kann auch als Möglichkeit gesehen werden, um angemessen auf Diversität reagieren zu können (vgl. Dräger/Friedrich/Müller-Eiselt 2014, S. 6 ff.). Und divers sind Gruppen in Hinblick auf Lernprozesse schließlich immer, auch wenn Gruppen Studierender manchmal vermeintlich homogen wirken. Denn wir alle haben ganz individuelle Bedürfnisse in Bezug auf den eigenen Lernprozess.

Das humboldtsche Bildungsideal im Kontext der Online-Lehre in Zeiten der Pandemie

Wie schon eingangs erwähnt halte ich eine Orientierung am neuhumanistischen Bildungsideal sowohl für die analoge als auch die digitale Bildung für sinnvoll. Im Weiteren möchte ich darauf eingehen, wo ich aktuell Anknüpfungspunkte und Bedarfe sehe. In Hinblick auf die Selbstbestimmung sehe ich bei der Online-Lehre eine große Chance. Die Studierenden können im Idealfall besser entscheiden, in welchem Tempo und Rhythmus sie mit den Lehrinhalten auseinandersetzen. Ferner lassen einige Arbeitsaufträge es zu, sich selbst Schwerpunkte zu setzen und damit selbst zu entscheiden, welchen Themen man sich gezielt widmen möchte.

Mündigkeit spielt eine wesentliche Rolle im digitalen Zeitalter, da wir mit der Flut an Informationen umzugehen lernen müssen. Konkret bedeutet das, Studien prüfen und verstehen zu können und Online-Beiträge, Texte und Webseiten einordnen. Adorno sagt, dass Texte, Begriffe und Theorien vollständig durchdrungen sein müssen, bevor sie kritisch hinterfragt werden können. Es muss also eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Inhalten stattfinden und sie müssen in einen Kontext gesetzt werden können. In Bezug auf das kritische Überprüfen von Quellen, insbesondere von Online-Quellen sehe ich noch Bedarfe.

Adorno bezeichnet Bildung als interaktiven und sozialen Prozess. In dem Zusammenhang fällt mir die Kollaboration ein. Lernen findet immer mehr in Gruppen und Austausch untereinander statt. In unserer Kohorte findet in Bezug auf Kollaboration bereits durch den Zusammenschluss und Austausch der Studierenden einiges statt. Es gibt einen selbstorganisierten Moodle-Kurs für unsere Kohorte und wir stellen dort Zusammenfassungen sozusagen als „commons“ für alle bereit und teilen damit unser Wissen mit unseren Kommiliton*innen. Zudem berufen wir Zoom-Meetings ein, in denen wir Texte besprechen und im Sinne der Schwarmintelligenz versuchen, gemeinsam offene Fragen zu beantworten. Auch seitens der Dozierenden sind Gruppenarbeiten ein zentrales Element der Online-Lehre. Ferner stehen Etherpads für gemeinsame Diskussionen und Austausch in vielen Modulen bereit. Da Lernen ein sozialer Prozess und der Austausch besonders wichtig ist, sehe ich an dieser Stelle noch Potentiale für Veränderung. Die Kommunikation bei Online-Vorlesungen gestaltet sich anders. Bisher habe ich noch den Eindruck, dass noch nicht so schnell aufeinander reagiert werden kann, wie in Präsenzsitzungen und die Hemmschwelle sich zu äußern, höher ist. Mir fehlt bei den Online-Vorlesungen die Spontanität in der Interaktion.

Aufgefallen ist mir, dass vertraute Strukturen im Moment ins digitale übertragen werden (Mihajlovic 2018). Arbeitsaufträge werden zum Teil sehr ähnlich durchgeführt wie in den Präsenzveranstaltungen. Präsenzvorlesungen werden über Zoom oder BigBlueButton gehalten, es gibt viele Vorlesungen mit Kleingruppenarbeit und Powerpointpräsentationen werden vertont. Diese vertrauten Strukturen schaffen einen niedrigschwelligen Zugang und geben Sicherheit. Die Situation ist gerade sehr neu für uns, deshalb ist es nicht ungewöhnlich, wenn wir versuchen diese Strukturen beizubehalten und ich möchte das auf keinen Fall geringschätzen und komme auch gut damit zurecht. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass auch neue Formen, Wissen zu erwerben dazu kommen könnten.

Für Humboldt spielt Verantwortung der Weltbürger gegenüber dem Gemeinwesen eine wesentliche Rolle bei der Bildung. Er schreibt: „Zum Weltbürger werden heißt, sich mit den großen Menschheitsfragen auseinanderzusetzen: sich um Frieden, Gerechtigkeit, um den Austausch der Kulturen, andere Geschlechterverhältnisse oder eine andere Beziehung zur Natur zu bemühen.“ (Humboldt zit. nach Simon 2017/2018, S. 7). Hier sehe ich einen zentralen Anknüpfungspunkt zu unserem Masterstudiengang. Denn die „großen Menschheitsfragen“ sind es gerade, mit denen wir uns beschäftigen. Wir setzen uns mit Gerechtigkeitskonzepten auseinander, analysieren Innovations- und Transformationsprozesse, betrachten Nachhaltigkeit aus verschiedenen Perspektiven und beschäftigen uns mit Handeln im interkulturellen und internationalen Kontext. Wir üben fundierte Kritik an den gegebenen ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen. In diesem Kontext wird der Studiengang dem neuhumanistischen Bildungsideal gerecht da ein wesentlicher Bestandteil ist, Gesellschaft kritisch zu analysieren (vgl. Sarweh 2016).

Literatur

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