Soziokratische Organisationen in der Sozialen Arbeit

Soziokratische Organisationen in der Sozialen Arbeit

Lesezeit (inkl. Mediennachweis): 7 Minuten

Ein Erklärvideo und Fallbeispiel

Das Erklärvideo ist im Zuge unserer Projektarbeit zum Thema soziokratische Organisationen im Modul „Organisationen und ihre Handlungsressourcen“ an der Hochschule München entstanden. Bei unserer Auseinandersetzung mit dieser Organisationsform ist uns aufgefallen, dass diese bei vielen Menschen im Bereich der Sozialen Arbeit noch nicht bekannt ist. Da der Ansatz jedoch sehr spannend ist, möchten wir mit diesem Video einen ersten Einstieg in die generellen Merkmale und Funktionsweisen soziokratischer Organisationen bieten. Nach einer kurzen allgemeinen Einführung wird näher auf die vier Grundprinzipien soziokratischer Organisationen eingegangen. Abschließend werden die Stärken dieser Organisationsstruktur beleuchtet. Dazu gehört auch der folgende Beitrag mit einer fiktiven Fallgeschichte.

Zeitindex:

  • ab Min. 00:07 – Einführung in soziokratische Organisationen
  • ab Min. 01:24 –  Grundprinzipien der soziokratischen Organisationen
  • ab Min. 01:20 – Kreisstruktur
  • ab Min. 01:34 – Konsentprinzip
  • ab Min. 01:46 – Doppelte Deutung
  • ab Min. 01:57 – Offene Wahl
  • ab Min. 02:10 – Stärken der soziokratischen Organisationen

Das Fallbeispiel – Die Geschichte von Frau B.

Dieser Blogeintrag möchte aus der fiktiven Perspektive einer Mitarbeiterin eines Unternehmens realistisch beschreiben, wie das Konsentprinzip, eines von vier Grundprinzipien soziokratischer Organisationen, angewendet werden kann.

Die 39-jährige Frau B. arbeitete für eine längere Zeit in einem stark hierarchisch orientierten Pflegeunternehmen, in dem viele Konflikte und Herausforderungen an der Tagesordnung standen. Durch die Schwierigkeiten musste sich das Unternehmen transformieren, um weiterhin fortbestehen zu können. Dafür begann es, nach dem Konzept der Soziokratie zu arbeiten. Frau B. berichtet nun im Folgenden von ihren persönlichen Ansichten und Erfahrungen dieser Entwicklung.

Eigentlich sollte Arbeit ja Spaß machen

Früher war es in meinem Unternehmen sehr unangenehm. Eigentlich sollte die Arbeit ja Spaß machen, aber dafür gab es zu viele Probleme und Herausforderungen. Es wurde ein klassisch hierarchischer Führungsstil verfolgt, bei dem ich mich leider auch nicht besonders wertgeschätzt gefühlt habe. Generell hat eine sehr hohe Unzufriedenheit geherrscht. Auch meine Kolleg*innen waren sehr unglücklich; darüber haben wir uns oft ausgetauscht. Entscheidungen wurden auf höherer Ebene getroffen. Da haben wir als Arbeitnehmer: innen auch oft nicht wirklich viel mitbekommen oder zu sagen gehabt. Leider waren auch unsere Führungskräfte mit der gesamten Situation im Unternehmen sehr überfordert. Ein paar Kolleg*innen haben das Unternehmen dann auch verlassen und es war schwer, neue Mitarbeiter*innen zu finden, sodass wir dann auch relativ bald einen chronischen Personalmangel hatten.

Irgendwann ist die Situation dann leider eskaliert. Da hatten wir gerade eine Besprechung, bei der es um die monatliche Verteilung der Stunden ging. Durch die vielen personellen Ausfälle mussten wir verbliebenen Mitarbeiter: innen noch viel mehr arbeiten und Überstunden leisten. Das hat uns natürlich alles überfordert. Die Stimmung war allgemein schon sehr gereizt und aufgeladen – doch nicht nur bei uns Mitarbeitenden, sondern auch bei den Führungskräften. Unsere Führungskräfte zeigten sich leider auch nicht kompromissbereit; im Gegenteil, sie erwarteten, dass wir einfach so weitermachten wie bisher. Das hat zur Eskalation geführt. Alle waren verzweifelt und haben überlegt, wie es nun weitergehen soll.

Dann kam die Lösung

Dann kam die Lösung. Und meiner Meinung nach völlig unerwartet. Unser Unternehmen hatte erst vor kurzem einen neuen Mitarbeiter eingestellt. Daher kannte ich ihn noch nicht besonders gut. Ich wusste nur, dass er Herr L. hieß und dass er erst seit ein paar Wochen bei uns beschäftigt war. Herr L. meldete sich also während der Versammlung, um einen Vorschlag zu machen. Er schlug vor, dass wir doch einmal ein neues Konzept ausprobieren könnten. Er nannte es Soziokratie und beschrieb, dass es dabei vor allem darum gehen sollte, Probleme ausfindig zu machen und zu lösen. Dafür würde ein bestimmter Ansatz verfolgt – er nannte ihn das Konsentprinzip,  was damit bewirkt wurde, wollte er uns später noch ausführlicher erklären. Zudem hatte er schon in früheren Berufen von Soziokratie gehört und damit gearbeitet. Herr L. beschrieb das Konzept insgesamt als sehr erfolgversprechend und fragte, ob wir es nicht im Unternehmen anwenden können. Das war das erste Mal, dass ich etwas davon gehört habe.

Die Führungskräfte erklärten sich überraschenderweise damit einverstanden, das Problem der monatlichen Stundenverteilung mithilfe des Konsentprinzips zu lösen. Das  Prinzip der Entscheidungsfindung im Konsent ist neben dem Prinzip der Kreisstruktur, dem Prinzip der doppelten Kopplung und dem Prinzip der offenen Wahl, eines von vier Prinzipien soziokratischer Organisationen. Herr L erklärte das Prinzip der Entscheidungsfindung im Konsent in etwa so:

Es dient grundsätzlich dazu, das gemeinsame Verständnis des Vorschlags vor der Meinungsäußerung sicherzustellen, niemanden zu übergehen und allen Teilnehmenden die explizite Möglichkeit, ihre Meinung zu äußern, zu geben. Außerdem soll durch die Anwendung des Konsentprinzips eine faire Verteilung der Redeanteile und Integration der Kompetenzen im Team in den Meinungsrunden ermöglicht und hierarchische Machtstrukturen aufgebrochen und stattdessen aufgrund von Kompetenzen und überzeugenden Argumenten entschieden werden.

Entscheidungsfindung im Konsent

Wir machten uns sogleich daran, unsere Entscheidungsfindung im Konsent auszuprobieren. Herr L. übernahm hier die Rolle des Moderators, da er sich aufgrund früherer Berührungspunkte am besten mit der Anwendung soziokratischer Prinzipien auskannte.

Wir starteten mit einem ausformulierten Vorschlag zur Stundenverteilung, der in der letzten Diskussion am präsentesten gewesen war, aber nicht von allen Zustimmung erfahren hatte. Dann gingen wir in die Informationsrunde, wo jede*r Fragen zu dem vorgebrachten Vorschlag stellen konnte. Mir hat hier besonders gut gefallen, dass wirklich jede*r zu Wort gekommen ist, und keine Frage übergangen oder als unnütz abgetan wurden, wie es bei uns im Unternehmen sonst oft der Fall war. Außerdem empfand ich es als sehr sinnvoll, dass diese Gesprächsrunde ausschließlich der Informationsbeschaffung galt, sodass sich jede Person eine fundierte Meinung bilden konnte. Anschließend forderte Herr L. uns der Reihe nach auf, unsere Meinung zu dem gebrachten Vorschlag zu äußern. Jede*r von uns hatte hier gleich viel Zeit, die Meinung darzustellen, was neben dem Gebot, andere nicht zu unterbrechen, dazu geführt hat, dass jede Person sich gehört und gleichwertig gefühlt hat. Für mich war es eine neue und sehr bereichernde Erfahrung, dass meine Meinung genau so angehört wird wie beispielsweise die meiner Vorgesetzten.

Nachdem alle ihre Meinung geäußert hatten, gab es eine zweite Runde, indem man, falls sich die eigene Meinung aufgrund der Beiträge der Anderen geändert hat, seine angepasste Meinung nochmals darstellen durfte. So hat sich ein deutliches Meinungsbild herauskristallisiert, mit dem wir den anfänglichen Vorschlag zur Stundenverteilung angepasst haben. Bereits hier war zu spüren, dass alle sehr viel zufriedener mit dem Fortgang des Meetings waren als noch einige Zeit vorher.

Nun begann die letzte Phase – die Konsentfindung. Herr L. forderte uns auf, gleichzeitig per Handzeichen unseren Konsent oder aber Einwände zu geben. Hier gab es drei Möglichkeiten: entweder, man war vollends mit dem Vorschlag einverstanden, man war mit dem Vorschlag einverstanden, möchte aber noch etwas dazu anmerken oder man hat einen schwerwiegenden Einwand gegenüber dem Vorschlag und möchte ihn nicht mittragen. Bei uns legte Frau M. einen schwerwiegenden Einwand gegen den Vorschlag vor und sollte dann begründen, wieso sie diesen vorgebracht hat und was sie benötigt, um ihren Konsent zu geben. Denn in der Soziokratie können keine Entscheidungen getroffen werden, wenn es schwerwiegende Einwände gibt – egal von welcher Person eingebracht, diese können nicht von Führungspersonen übergangen werden. Den Vorschlag an Frau M.s Einwand angepasst, führten wir eine weitere Meinungsrunde durch und in der anschließenden Konsentfindung waren dann alle mit ihm einverstanden. Und ich muss sagen, ich war wirklich begeistert, wie wir diese Entscheidungsfindung hinbekommen haben. Es war wie eine 180 Grad-Wende zu vorherigen Diskussionen. Diesmal fühlten sich alle gehört und wahrgenommen, niemand hatte das Gefühl, übergangen worden zu sein. Was mich überraschte, war, dass unsere Führungskräfte erstens mitgemacht haben und zweitens plötzlich viel entspannter wirkten! Ich glaube, sie waren froh, dass sie nicht die Entscheidung treffen mussten, denn sie hatten sich zwar in der Vergangenheit schlecht uns Mitarbeitenden gegenüber verhalten, aber nicht etwa aus Böswilligkeit, sondern aus mangelnder Expertise. Mit meinen Kolleg*innen habe ich mich nach der Entscheidungsfindung noch lange über die positiven Effekte dieses Treffens unterhalten.

Damit fing eigentlich erst alles an!

Und damit fing bei uns im Unternehmen eigentlich alles an. Wir waren alle begeistert von unserer Erfahrung mit der Soziokratie und so genervt vom gegenwärtigen Zustand unseres Unternehmens, dass wir sehr motiviert waren, einen langfristigen Organisationswandel herbeizuführen. Gemeinsam trugen wir das zu unseren Führungskräften und sie waren einer Meinung mit uns. Wir überlegten, wie wir zu einem Unternehmen werden können, in dem wir gerne arbeiten, indem wertgeschätzt und viel geleistet wird und welches wirtschaftlich bestehen kann. Herr L. erzählte uns mehr über soziokratische Unternehmen, und da die Entscheidungsfindung im Konsent für uns so gut geklappt hat und eigentlich alles anstieß, entschieden wir uns (übrigens auch über den Konsent), eine Transformationsbegleiterin zu engagieren, die ihr Spezialgebiet auf soziokratische Unternehmen gelegt hatte.

Die nächste Zeit in unserem Unternehmen war sehr aufregend, da wir neben unserem Tagesgeschäft neue Strukturen etablierten. Wir waren sehr froh, eine externe Begleitung an unserer Seite zu haben. Es war nicht immer einfach und mit einigen Überstunden verbunden, aber die Transformation zu einem soziokratischen Unternehmen hat auch unheimlich viel Spaß gemacht, da wir aktiv mitgestalten konnten.

Jetzt sind wir statt in einer klassischen Hierarchie in Kreisstrukturen organisiert, verbinden diese Kreise durch das Prinzip der doppelten Kopplung und verwenden zur Positionsvergebung das Prinzip der offenen Wahl. Nun arbeiten wir viel wirksamer zusammen, als uns zu streiten oder Widerstände abzubauen. Das liegt glaube ich vor allem an den lebendigeren Informationswegen, klaren Rollen, effektiveren Entscheidungen und an der gestiegenen allgemeinen Wertschätzung im Unternehmen. Außerdem ist die Stimmung zwischen uns Mitarbeitenden viel freundlicher und unsere Führungskräfte erscheinen auch ausgeglichener. Die Transformation zu einem soziokratischen Unternehmen war wirklich das Beste, was uns passieren konnte!

Organisatorisches

Reflexion

Wir als Gruppe haben uns gleich zu Anfang nach Interessen und Kompetenzen aufgeteilt. Dadurch entstanden zwei Untergruppen, die gemeinsam an den Überlegungen weiterarbeiteten und ihren Wissensstand auf ein offenes Dokument teilten.

Herausfordernd war es dabei, trotz alledem Absprachen zu treffen um die andere Gruppe auf dem Laufenden zu halten. Hierbei zeigten sich knappe Ressourcen in der zeitlichen Gestaltung unserer Arbeit. Auch der Arbeitsschritt, wie wir am besten das Thema partizipativ umsetzen bzw. dann unser Rollenspiel gestalten, war herausfordernd.

Als Lernprozess kann vor allem die digitale Herangehensweise und Übungsplattform genannt werden. Sichtbar wurde auch, dass eine Veränderung der Organisationsstruktur viele verschiedene Dimensionen miteinschließen muss und vor allem als ein dadurch langer und ausdauernder Prozess angesehen werden muss, um nachhaltig etwas in der Organisation zu verändern.

Spannend war es zu sehen, dass wir alle aus unterschiedlichen Bereichen gemeinsam an dem Projekt gearbeitet haben und dadurch verschiedene Kompetenzen und Interessen einbringen konnten. Auch konnte durch die Auseinandersetzung in der Gruppe eine Utopie für einen Organisationsrahmen gesetzt werden.

Insgesamt würden wir das Gruppenprojekt als erfolgreich bewerten. Das Rollenspiel beispielsweise wurde positiv von unseren Kommiliton:innen aufgenommen. Das zeigen der Relevanz des Themas “soziokratische Organisationen”, sowie die Vermittlung der Theorie, unter anderem auf eine praktische Art, ist uns gelungen. Wir haben stets gut miteinander kommuniziert und uns aufgrund der Gruppengröße entsprechend unseren Interessen und Kompetenzen aufgeteilt. So konnten wir effizient arbeiten.

Literatur und Medien

CC BY-SA und OER

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